Wer wird uns Gutes sehen lassen?

Eine Predigt von Rianna Isaak-Krauß zu Psalm 4

Die Psalmen gehören zu meinen Lieblingsstellen in der Bibel. Diese Gebete und Lieder sind so authentisch. Sie sind voll von verschiedenen Gefühlen.
Der Psalmist schreit nach Hoffnung. Der Psalmist fragt: „Wie lange werden wir leiden?" Er bittet: „Oh, dass wir etwas Gutes sehen könnten. Lass dein Licht auf uns scheinen“

Dies ist die Jahreszeit, in der wir uns befinden. Es ist die Jahreszeit des Winters. Dunkelheit ist überall um uns herum, die Sonne geht früh unter und spät auf. Die weltweite Pandemie wütet, täglich werden Menschen krank und sterben. Wir sehnen uns nach Licht und Hoffnung, so wie die Psalmisten: „Lass dein Angesicht über uns leuchten!“ Das ist ein Gebet, das ich zutiefst verstehe. Ich kann es in der Sehnsucht in mir spüren.

Und das Licht kommt. Langsam. Stetig. Mit jedem Tag wird das Licht stärker.
Und die Hoffnung kommt. Langsam. Stetig. Ärzte und Krankenschwestern verteilen einen Impfstoff und Hoffnung.
Wie der Psalmist: wir sehnen uns nach Licht. Wir sehnen uns nach Hoffnung.

Einmal habe ich in unserer kleinen Gemeinde in Elkhart, Indiana, den Gottesdienst geleitet. Der Text war Johannes 1,5: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht überwunden.“ Jesus als das Licht der Welt. Als der Gottesdienst endete, segnete ich jede Person mit den Worten „Möge das Licht Christi dein Leben erhellen“. Eines der Gemeindemitglieder war eine schwarze Frau. Bevor ich sie segnete, bat sie mich, aufzuhören. Sie sagte zu mir: „Ich mag eigentlich die Dunkelheit. Ich mag die Schwärze. Ich möchte nicht heller werden. Kannst du mich bitte mit einer anderen Metapher segnen?“ Ich war fassungslos. Ich hatte gar nicht an die rassistische Dynamik der ständigen Verwendung von hell als gut und dunkel als schlecht gedacht. Ich kann mich nicht erinnern, mit welchen Worten ich sie am Ende gesegnet habe. Aber ich erinnere mich, dass sie mich mit einer neuen Sichtweise gesegnet hat, wer Gott ist.

Dunkelheit ist nicht immer negativ.
• Wurzeln brauchen die Dunkelheit der Erde, die sie umschließt. Wurzeln brauchen die Dunkelheit, um tiefer zu wachsen. Wenn wir die schönen Bäume und Pflanzen um uns herum betrachten, sehen wir nur die Hälfte von ihnen. Die Wurzeln, verborgen, geheimnisvoll, in der Dunkelheit der Erde, sind die Stütze und die Kraft des Ganzen.
• Babys im Bauch brauchen die Dunkelheit, um die Sicherheit zu haben, die sie brauchen, in diesen intimen und komplizierten Tagen des “Gebildet-Werdens im Mutterleib“ (Psalm 139). Babys wachsen in der Zeit der wartenden Dunkelheit, bis sie stark genug sind, um herauszukommen.

Der Psalmist bittet nicht nur darum, dass Gott uns Hoffnung bringt, sondern er ruft auch dazu auf, dass Gott unsere Perspektive verändert. „Oh, dass wir etwas Gutes sehen könnten!“ Was, wenn es meine Aufgabe ist, das Gute zu sehen, das Gott in dieser Zeit der Finsternis bereits getan hat? Was ist, wenn es meine Arbeit ist, das Gute zu sehen, das Jesus in dieser Zeit des Wartens getan hat? Was ist, wenn es meine Berufung ist zu bemerken, wie der Heilige Geist sich in meinem Herzen während dieses Lockdowns bewegt hat?
Es gibt hier etwas Gutes in der Dunkelheit des Winters, in der Dunkelheit des Lockdowns. Was ist es? Was ist es für dich?
Wie der Psalmist sagen wir: Oh, dass wir etwas Gutes sehen könnten! Lass die Dunkelheit deines Schattens uns umarmen, o Herr!

Johannes vom Kreuz war ein spanischer katholischer Mönch des 16. Jahrhunderts. Er war ein Mystiker und wurde von Teresa von Avila im Beten unterrichtet. Er nennt einen Teil der spirituellen Reise „Die dunkle Nacht der Seele“. Dies ist eine Zeit im Leben eines Menschen mit Gott, in der man sich von Gott entfernt fühlt, eine Zeit, in der man Gottes Gegenwart nicht mehr spürt. Sie kann von Monaten bis zu Jahren dauern. Diese „Dunkle Nacht“ ist etwas, das schmerzhaft ist, weil es sich anfühlt wie die Abwesenheit von Gott. Aber eigentlich ist es eine Zeit, in der Gott näher kommt. Es ist eine Zeit, in der Gott mehr davon offenbaren möchte, wer Gott ist. Wir müssen Zeit in dieser Dunkelheit verbringen, während wir uns auf das einstellen, was Gott uns offenbart. Wir warten. Wir beten. Wir nehmen wahr, ohne etwas zu hören, – und vertrauen wie der Psalmist darauf, dass Gott sich wieder zeigt.

Walter Brueggemann, ein Theologe, der mit den Psalmen gearbeitet hat, sagte, dass die Psalmen oft einen Rhythmus haben. Ein Psalm beginnt mit Orientierung, dann Desorientierung, und lässt uns dann nicht in der Desorientierung, sondern bringt uns in eine Neuorientierung.

So auch beim Psalm 4. So auch bei meiner Predigt.
Unser erster Schritt war Orientierung. Wir haben uns gemeinsam nach Licht gesehnt.
Im zweiten Schritt, der Desorientierung, haben wir die zu einfache Metapher, infrage gestellt, in der Licht immer gut und Dunkelheit immer schlecht ist. Manchmal kann das Licht blenden - und in der Dunkelheit wächst Leben heran. Manchmal ist es wichtig, dass wir uns irritieren lassen. Sonst merken wir nie, dass wir nur einen Teil der Wirklichkeit sehen.
Aber ich lasse euch nicht in der Desorientierung hängen!
Jetzt im dritten Schritt, kommen wir zur Neuorientierung. Gemeinsam können wir sehen, dass Gott jenseits unserer Metaphern ist. Gott ist sowohl im Licht als auch in der Dunkelheit. Und Gott führt uns tiefer in sein Selbst hinein.

In dieser Zeit der Dunkelheit, des Winters, des Lockdowns, in dieser kollektiven dunklen Nacht der Seele, lohnt es sich, genau hinzuhören: "Wo nimmst du Gott in deinem Leben wahr?"

Ich habe eine Dankbarkeitsübung begonnen. Ich habe eine WhatsApp-Gruppe mit Freund:innen, wo wir jeden Tag etwas schreiben, wofür wir dankbar sind. Diese Gruppe, hilft mir, meine Dankbarkeit laut zu benennen, sodass ich mich daran erinnern kann. Jeden Tag suche ich nach Spuren Gottes in meinem Leben – auch wenn ich oft nichts spüre. Und ich halte Ausschau nach Gutem und halte mich daran fest. Vielleicht willst du eine Liste schreiben oder ein Tagebuch führen oder du rufst jemanden an und erzählst eine Sache. Ich lade dich ein, mit mir nach Gott zu suchen und das Gute zu bemerken.

Das ist für mich eine spirituelle Erfahrung gewesen, die Suche, auch an schwierigen Tagen, nach Spuren des lebendigen und liebenden Gottes in meinem Leben. Genau wie die Wurzeln, genau wie das Baby im Mutterleib, war diese Zeit der Dunkelheit eine Zeit des Wachstums für mich. Und vielleicht ist es, wie bei den Wurzeln und wie beim Baby, nicht an der Oberfläche zu sehen. Aber es ist in den tief verborgenen Teilen von mir zu sehen, und ich vermute, bei dir auch.

Amen

Rianna Isaak-Krauß
24. Januar 2021