Eine Predigt von Marius van Hoogstraten. Gemeinde Fankfurt, 24. August 2025
Lesung
Von dem hutterischen Chronisten Kaspar Braitmichel (etwa 1540):
Und es begab sich, dass sie beieinander waren, bis die Angst anfing und auf sie kam, ja, sie in ihren Herzen bedrängte. Da fingen sie an, ihre Knie zu beugen vor dem höchsten Gott im Himmel, und riefen ihn an als einen, der die Herzen kennt, und beteten, daß er ihnen geben möge, seinen göttlichen Willen zu tun (…). Denn Fleisch und Blut oder menschlicher Fürwitz haben sie gar nicht getrieben, weil sie wohl wussten, was sie darüber würden dulden und leiden müssen. Nach dem Gebet stand Georg vom Hause Jakob auf und bat Konrad Grebel um Gottes Willen, daß er ihn taufen möge mit der rechten christlichen Taufe auf seinen Glauben und seine Erkenntnis. Und da er mit solchem Bitten und Begehren niederkniete, taufte Konrad ihn, weil dazumal sonst kein verordneter Diener war, solches Werk zu tun. Als das geschehen war, begehrten die andern gleicherweise von Georg, dass er sie taufen sollen, was er auf ihr Begehren auch so tat. Und sie ergaben sich so miteinander in hoher Furcht Gottes dem Namen des Herrn. Einer bestätigte den andern zum Dienst am Evangelium, und sie fingen an, den Glauben zu lehren und zu halten.
Predigt
Das will ich nochmal machen: euch meine Gedanken mitteilen über diese Ereignisse in Zürich in 1525, die wirklich den Beginn der Täuferbewegung im 16. Jahrhundert markieren. Oder einen Beginn. Denn die täuferische Bewegung im frühen 16. Jahrhundert, aus der die Mennoniten hervorgegangen sind, ist eine vielfältige und zerstreute Bewegung mit mehreren Zentren und mehreren, sagen wir, Beginnpunkten.Und dieser Moment begeistert offenbar nicht nur mich, sondern auch andere, denn dies ist der Moment, dessen 500-jähriges Jubiläum wir im Mai in Zürich gefeiert haben. Das war ein wirrer und überfüllter Tag, und der Gottesdienst, den wir zu dem Thema hier in Frankfurt feierten, war auch überfüllt. Deshalb habe ich diese Predigt damals nicht gehalten. Das will ich jetzt also nachholen.
Was ich heute sagen werde, wird sich auch um Freiheit drehen. Und um Gemeinschaft. Und was das ist, und was diese beiden Sachen miteinander zu tun haben. Ich denke, wir sehen Freiheit oft als etwas, das am besten ohne andere Leute passiert. Oder jedenfalls ohne die Einmischung von anderen Leuten.
Und wir sehen Gemeinschaft vielleicht oft als etwas, das nur funktioniert, wenn die Leute eben nicht ganz frei sind. Und doch scheint es bei Jesus und bei dem Ansatz der Täufer immer um beides zu gehen.
Also gibt es so was: Freiheit, die nicht nur das ist, was ich selber will? Die nicht nur individualistisch ist? Und Gemeinschaft, die echte Gemeinschaft ist, und trotzdem nicht konformistisch ist. Die trotzdem Platz lässt für die Einzigartigkeit und Verschiedenheit der Leute? Das ist auch so ein bisschen die Frage, mit der ich mich in meiner Forschung beschäftige an der Uni. Und ich denke, dass die Geschichte der Täufer – also der Bewegung in der Reformation aus der auch unsere Mennonitengemeinde irgendwie hervorgegangen ist – dafür eigentlich ganz interessante Anstöße gibt.
Einer von diesen Anstößen ist eben diese Geschichte von diesen ersten Taufen damals in Zürich. Wir schreiben das Jahr 1525. Die Reformation ist in Europa schon einige Jahre unterwegs. Es ist ein Winterabend im Januar. Und eine Gruppe von Menschen, Freunden, Freundinnen, versammelt sich in einem Wohnzimmer. Sie haben Angst. Sie haben versucht, Zwingli, den Reformator ihrer Stadt, davon zu überzeugen, dass zu einer Reformation auch gehört, dass die Menschen selbst entscheiden müssen, ob sie sich taufen lassen wollen. Dass eine biblische, reformierte Kirche kein verlängerter Arm der Staatsmacht sein sollte, sondern eine eigene und freie Gemeinschaft, der Menschen angehören können oder auch nicht. Aber es hat nicht geklappt. Zwingli war nicht zu überzeugen.
Was nun.
Ich habe zu Beginn vorgelesen, wie ein Anwesender es in einer Chronik beschrieben hat, die etwa 15 Jahren später verschriftlicht wurde. Es ist ein kurzes und einfaches Fragment: Es beschreibt einfach, wie eine verängstigte Gruppe von Gläubigen sich versammelt, mit nichts in der Hand als einen einfachen und freien Glauben in ihren Herzen und ihre Gemeinschaft miteinander. Sie beten gemeinsam und wagen es dann, neu zu beginnen.
Aber… wie macht man das, neu beginnen? Wo fängt man dann an? Einer, Konrad, tauft zuerst einen anderen, einen Georg. Und dann tauft er, dieser Georg, die übrigen Anwesenden, einschließlich des ersten, Konrad, selbst. So musste es sein, lesen wir, „weil dazumal sonst kein verordneter Diener war, solches Werk zu tun.“ Eigentlich ist es nicht so, wie es sich gehört. Eigentlich darf ja nur taufen, wer selbst bereits getauft ist und im Idealfall auch Pastor ist. Jedenfalls im Verständnis des Mannes Kaspar Braitmichel, der das da aufschreibt. Denn er gehört zu einer täuferischen Fraktion, die diese Art von geregelten Verfahren sehr wichtig findet. Aber, naja, so einen verordneten Diener gibt es nicht. Denn wer könnte ihn ernennen? Die Kirche, die Gemeinde, die dann jemanden ernennen könnte, ist noch nicht da, die ist gerade erst im Entstehen. Sich taufen zu lassen bedeutet, Mitglied einer Gemeinschaft zu werden. Doch zu dem Zeitpunkt, als Konrad Georg tauft, ist diese Gemeinschaft noch nicht da. Jedenfalls formal nicht. Aber, tja, irgendwo muss man ja anfangen.
Und das finde ich großartig. Dass diese neue Kirchengründung eigentlich nicht nach den Regeln beginnt, nicht wie es sich gehört, sondern improvisiert. Selbstgemacht.
Und zusammen selbstgemacht. Niemand hat wirklich allein die Autorität, allein für ein solches Neu-Beginnen den Startschuss zu geben. 'Ich gründe jetzt …' – das ist nicht, was hier passiert. Und in der Beschreibung zeigt man sich dessen sehr bewusst. Die Freiheit dieser neuen, freien, selbstgewählten Taufe ist unmittelbar eingebettet in die Gegenseitigkeit einer Gemeinschaft. Es wird nicht einfach entschieden. Es wird gefragt und abgewogen und gebeten und gegeben und empfangen.
Und in diesem Durcheinander, in dieser Gegenseitigkeit freier Menschen in Gemeinschaft, spricht Gott.
Ein bisschen.
Sanft.
Oder... ja?
Denn der Text, den wir haben, von Braitmichel, ist darüber schon sehr vorsichtig. Zu vorsichtig, könnte man meinen. Würde ein Ereignis dieses Ausmaßes nicht ein wenig mehr göttliches Eingreifen erfordern? Wäre es nicht naheliegend, wenn wenigstens jemand in Zungen reden würde? Oder es ein Brausen vom Himmel gäbe? Aber nichts von alledem. Keine Wunder, keine Offenbarungen, kein Erdbeben. Nicht einmal eine Vision oder ein prophetischer Traum!
Und das ist eigentlich komisch. Denn wir kennen die frühen Täufer aus dem sechzehnten Jahrhundert als ziemlich beschäftigt mit Gott und dem Heiligen Geist. Und Propheten und Prophetinnen insbesondere waren gang und gäbe. Aber dieser Mann, der das hier schildert, bleibt was all das angeht sehr zurückhaltend, was Gott hier tut oder nicht tut. Sehr vorsichtig. Und das gefällt mir. Als könnte man das auch nicht immer so direkt sagen. Als würde Gott vielleicht auch nicht am klarsten zu erkennen sein in großen Offenbarungen. Sondern im gemeinsamen und immer unordentlichen, aber auch mutigen und freien Tun seiner Geschöpfe. Braitmichel sagt allerdings, dass die Anwesenden es nicht aus eigenem Antrieb getan haben, dass es nicht nur darum geht, was sie wollen, worauf sie Lust haben ("Denn Fleisch und Blut oder menschlicher Fürwitz haben sie gar nicht getrieben."). Aber was sie denn antreibt – sehr vorsichtig. Und ich denke, das sagt viel aus. Über dieses Zusammenspiel. Von unordentlicher, menschlicher, selbstgemachter Freiheit in der Gegenseitigkeit einer Gemeinschaft. Und wie darin die Stimme des Ewigen klingt. Sanft. Leise. Leicht zu überhören.
So spricht Gott, könnte man sagen, hier und in allen Kirchen, wenn man ehrlich ist. Als die stille, sanfte, häufig überhörte Einladung zu menschlichem, geschöpflichem Handeln. Die Stimme Gottes ist nicht so laut, sie entscheidet die Sachen nicht für dich. Sie spielt, geistert herum an menschlicher Gemeinschaft, aber lässt die Menschen auch frei in ihrer Antwort, wie sie auf Gottes Einladung selbst entscheiden.
Und ich denke, das ist wichtig. Deshalb ist es auch so gut, dass diese kleine Beschreibung, die wir haben, auch bei dieser Vorsicht bleibt. Es wäre ja sehr leicht gewesen, wenn man das später aufschreibt, da noch irgendwie eine himmlische Intervention reinzuschreiben. Dass der Auferstandene Jesus selbst da erschienen sei oder so. Oder halt wenigstens eine Vision oder ein Erdbeben.
Aber dann wäre es nicht Freiheit. Wenn ihnen der Auferstandene Jesus erschienen wäre, und der hätte ihnen gesagt: hier, so und so sollt ihr das machen – dann gäbe es ja kaum noch was zu entscheiden. Das hätte auch mit Glauben nichts mehr zu tun – das wäre ja einfach Sehen. Glauben ist immer auch Nicht-Wissen. Es ist ein Wagnis.
Und diese Freiheit, die Freiheit eben selbst für sich selbst entscheiden zu dürfen, welchen Weg du gehen willst, die bleibt ab diesem Moment wesentlich in den täuferischen Kirchen. Dass die Gemeinschaft der Kirche bestehen soll aus freien Menschen, aus Menschen die als mündige Wesen selbstbestimmt zu dieser Gemeinschaft hinzutreten – oder eben nicht.
Das bleibt wesentlich. Seit den frühesten täuferischen Ordnungen und Bekenntnissen durch die Jahrhunderte hindurch. Alles andere, stellt sich heraus, ist für täuferische Kirchen und für uns Mennoniten verhandelbar. Gewaltfreiheit? Manchmal. Besitz teilen? Naja. Einfacher Lebensstil? Auch nicht immer. Und so weiter. Aber diese eine Sache – du musst es selbst wollen – ist immer dabei. Niemand kann deinen Glauben und deine Zugehörigkeit für dich entscheiden.
OK. Jetzt könnte man sagen: Das ist schön, dass das in der Theorie immer so mit drin ist. In der Praxis hatte das häufig mit Freiheit gar nichts zu tun. Du darfst dann vielleicht selbst entscheiden, ob du dabei sein willst oder nicht – das war es dann aber auch schon. Danach ist nichts mehr mit Freiheit. Und schon gar nicht mit Gleichberechtigung in einer Gemeinschaft von freien Geschöpfen: Ab deiner Taufe ist in vielen Kirchen, auch in vielen mennonitischen, einfach nur Gehorsam angesagt gewesen. Und, schlimmer noch, eigentlich: Genau diese „freie Entscheidung“ wird zum Instrument um diesen Gehorsam zu verankern. Weil: man hat sich ja selbst freiwillig dazu entschieden. Dann musst du dich auch daran halten.
Und so war es auch oft. Bei den Mennoniten und bei unseren Cousins, den Amishen und anderen täuferischen Gruppen. Einen Moment zum Entscheiden gibt es – und seien wir mal ehrlich, so frei ist so eine Entscheidung dann auch nicht, wenn alle deine Verwandten und alles, das du kennst zu dieser Gemeinschaft gehört – und danach: Unterordnung. Konformismus. Gehorsam an die Norm des Kollektivs.
Und wer das nicht tut, wird rausgeschmissen. Der Bann, also der Rausschmiss, ist deshalb nach der freien Taufe das zweite wesentliche Thema, das täuferische Kirchen und Gruppen immer wieder beschäftigt hat. Das gibt es natürlich irgendwie in allen Kirchen und vielleicht in allen Religionsgemeinschaften. Aber in den täuferischen Kirchen wird es wirklich zum Kernpunkt. Auch weil sie nicht andere Strafen einsetzen wollen. Nicht zum Beispiel die Instrumente des Staates nutzen wollen.
Der Bann und seine Anwendung wird innerhalb der Täuferbewegung zum Mittelpunkt erhitzter Diskussionen, die bis weit ins 18. Jahrhundert andauern.
Wenn wir also von Freiheit und Selbstbestimmtheit als täuferischen Prinzipien sprechen, dann ist das immer auch eine umkämpfte Freiheit. Eine Freiheit, die immer wieder Gefahr läuft, verschlungen zu werden von dem Konformismus der Gemeinschaft.
Und weil das so ist, ist es auch nicht verwunderlich, dass für liberale Mennoniten diese individuelle Freiheit, die Loslösung vom Konformismus der Gruppe, sehr wichtig wurde, eben als echt eigene,individualistische Selbstbestimmung. Das ist für viele liberale Christ:innen in den Niederlanden, meiner Heimat, aber auch anderswo, unabdingbar: Dass niemand anderes, auch nicht deine Geschwister, für dich bestimmen können, was ein ethisches Leben ist, was Gott für dich bedeutet,wann du in den Gottesdienst kommst, was du glauben kannst und was nicht, und so weiter.
Ich finde das gut. Versteht mich nicht falsch. Aber es dreht die Sache eigentlich nur um. Wenn die einen sagen: Echte Gemeinschaft verträgt keine Freiheit, sagen Liberale oft: Echte Freiheit verträgt eigentlich keine Gemeinschaft. Jedenfalls nicht verbindlich, nicht so, dass sie mir was 'reinreden' könnte.
Sie gehen beide davon aus, dass man sich letztlich zwischen Freiheit und Gemeinschaft entscheiden muss. Oder zumindest eine Art Mitte finden muss. Dass du nicht beides ganz haben kann. Aber ich denke, dass die Kraft von einem Strang in dieser täuferischen Tradition gerade darin besteht, dass sie zusammengehören. Dass beides nicht voneinander loszulösen sind.
Dass du nur dann Gemeinschaft haben kannst, wenn es darin die Freiheit gibt, du selbst zu sein. Und dass du nur frei sein kannst, wenn du Menschen um dich herum hast, mit denen du frei bist. Die dich sehen, mit denen du handeln kannst. Und dass du nur frei sein kannst, wenn die Räume der Freiheit auch verteidigt und umsorgt werden. Wenn Freiheit nicht nur im Kopf passiert, sondern eine greifbare Realität in der Welt ist.
Ich denke, das ist eins der Wagnisse in dieser langen und vieldeutigen täuferischen Geschichte der letzten 500 Jahren: dass Kirche so ein Raum der Freiheit in Gegenseitigkeit sein kann. Und sein sollte.
Und wenn das so ist, und wenn es stimmt, dass solche Räume der Freiheit nicht einfach nur aufploppen, sondern umsorgt und erkämpft werden müssen -ich wiederhole: Gott macht es nicht für uns, aber vielleicht mit uns – dann ist vielleicht irgendwie in einer anderen Art doch auch noch was über diesen Bann zu sagen. Nicht im Sinne von: Du wirst rausgeschmissen, wenn du nicht machst, was der Pastor sagt.
Aber schon im Sinne von: Die Gemeinschaft soll nicht dazu verurteilt sein, Menschen zu erdulden, die nicht die Freiheit und die Menschlichkeit und die Gottesebenbildlichkeit ihrer Geschwister anerkennen. Die eigentlich gar nicht in Freiheit und Gleichheit und Verschiedenheit mit den anderen leben möchten.
Freiheit muss eben auch selbstgemacht sein, muss umsorgt und eben auch verteidigt werden. Und gerade freie und gewaltfreie Gemeinschaften müssen bereit sein, für die Freiheit als greifbare Realität in der Welt einzustehen und sie zu behaupten trotz und gegen die Kräfte der Unterdrückung. Das ist etwas, das Christ:innen und auch andere über die Jahrhunderte immer wieder gelernt haben, manchmal auch lernen mussten: Und ich denke, dass wir jetzt in einer Zeit leben, in der das besonders aktuell ist.
Amen.