Eine Predigt von Marie-Noëlle von der Recke, 08. November 2020

Ein Text aus 5. Mose 6
5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen ...

Ein kurzes Gleichnis in Markus 4, 26-29
26 Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft
27 und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.
28 Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.
29 Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Der direkte Kontext dieser Verse ist eine Reihe von Gleichnissen.
Kap.1+2 schildert erste Berufungen von Jüngern und erste Heilungen.
Kap. 3 beschreibt weitere Taten Jesu, aber auch erste Auseinandersetzungen mit Skeptikern.
Kap. 4 enthält einerseits eine Sammlung von Gleichnissen über das Reich Gottes und andererseits die dringliche Aufforderung "zu hören".

Warum Gleichnisse?
Warum nicht klipp und klar sprechen? Das Besondere an Gleichnissen ist, dass sie mehrdeutig sind. Sie werfen mehr Fragen auf, als klare Antworten und Anweisungen zu geben. Wer für Jesu Botschaft offen ist, wird eingeführt in die Geheimnisse des Reiches Gottes. Er und sie werden den Charakter des Reiches Gottes entdecken. Wer schon zu wissen meint, wie das Reich Gottes auszusehen hat, wird enttäuscht.

"Hören"
Dreizehnmal kommt das Zeitwort im Kapitel vor. Davon viermal die Aufforderung : "Hört! Wer Ohren hat, der höre!" Tim Geddert sieht darin ein christliches "Shema". Das Shema ist ein Grundpfeiler des jüdischen Glaubens. Das ist der Text, den wir vorhin im 5. Buch Mose, Kapitel 6,4-5 gehört haben: die Aufforderung, auf Gott zu hören und seinen Geboten zu folgen. Diese Aufforderung greift Jesus hier eindringlich auf.

Wer und was spielt eine Rolle in diesem Gleichnis?
Es ist die Rede von "einem Mann" Dieser Mann sät, schläft, steht auf, achtet auf das Wachstum seiner Saat. Im richtigen Moment gibt er das Zeichen für die Ernte. Ist dieser Mann ein Bauer, ein Jünger Jesu, Jesus selbst oder gar Gott? Das bleibt offen: Ein Indiz über sein Inneres: "er weiß nicht wie" der Samen sprießt, könnte heißen, dass ein Mensch gemeint ist.
"Abend und Morgen" könnte auf Gott hinweisen (ist das eine Anspielung auf den Schöpfungsbericht: "Es wurde Abend und es wurde Morgen"?) "Er sendet zur Ernte", könnte auch auf Gott hinweisen. 'apostellein' ist das Zeitwort, das hier benutzt wird, und das wir im Wort Apostel wiederfinden.

Die Saat, der Samen spielt eine Rolle:
Der Samen sprießt...
Der Sprössling wird lang...
Offensichtlich hat der Samen Kraft in sich und bleibt nicht das kleine trockene etwas, was er zuerst gewesen ist. Er verwandelt sich. Er wächst.

Die Erde:
Auch die Erde spielt eine Rolle: Sie ist es, die Frucht bringt und zwar in Etappen: zuerst den Halm, dann die Ähre, dann volles Korn in der Ähre.
In diesen wenigen Versen sehen wir wie alle drei: der Mann, die Saat und die Erde zusammenspielen, damit die Frucht wachsen und es zur Ernte im richtigen Moment kommen kann. "So ist das Reich Gottes" sagt Jesus. Dabei fällt im Originaltext ein Wort auf, das uns modernen Menschen geläufig ist: Es heißt, dass die Pflanze "von sich aus" wächst. Das griechische Wort hier ist "automate". Das alles läuft also "automatisch"!

Das Gleichnis ist sehr kurz und doch inhaltlich sehr reich.
Wie oft nimmt Jesus Anschauungsmaterial aus der Natur und aus der Arbeit der Menschen mit der Natur. Sicherlich, weil solche Bilder für seine Zuhörer und Zuhörerinnen begreiflich waren, aber vielleicht nicht nur deswegen. Jesus macht mit diesen Bildern deutlich, dass die Dynamik des Reiches Gottes Ähnlichkeiten hat mit der Dynamik der Schöpfung. Paulus sagt es ja im 2. Korintherbrief auch: "Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung" - und damit meint er nicht nur, dass wir Einzelne neu werden, sondern dass eine neue Wirklichkeit angefangen hat. Dieselben Vorgänge und Kräfte, die in der Schöpfung zu beobachten sind, sind im Kommen des Reiches Gottes am Werk. Spannend ist, dass im Gleichnis unklar ist, ob Gott oder Mensch diese neue Schöpfung in Gang bringt und gestaltet. Diese Zweideutigkeit könnte gewollt sein: im Reich Gottes, wie Jesus es verkündet, entsteht eine Dynamik, die der Dynamik der Schöpfung ähnelt und an dieser Dynamik sind Gott und Mensch beteiligt!

Dann gibt es das Wort "automate".
Wenn wir von Automatik sprechen, meinen wir etwas, was auf Knopfdruck passiert. Ein Einsatz von Energie und Mechanismen, die Kettenreaktionen auslösen. Die vielen Maschinen und Geräte, die wir täglich bedienen, gehorchen solchen Automatismen. Viel menschliches Know-how steckt dahinter. Viel Kraft wird aus solchen Automatismen geschöpft.
Ich glaube, hier ist etwas anderes gemeint: In der Dynamik der Schöpfung und der neuen Schöpfung, in der Dynamik des Reiches Gottes, gibt es Dinge, die "von sich aus" passieren, weil sie in der Natur dieser Dinge liegen, man würde heute sagen, in ihrer DNA. Kein Knopfdruck, keine Kettenreaktion, sondern der Wille des Schöpfers setzt Schöpfung und neue Schöpfung in Gang, Dieser Wille Gottes prägt jede Faser von dem, was er schafft und soll auch jede Faser von dem prägen, was wir schaffen, wenn wir an seinem Reich Anteil haben. Das Bild vom Samen, der auf die Erde fällt, zeugt vom Wunder der Schöpfung, es zeugt von einem Willen, Leben zu ermöglichen. Es spricht von einer Kraft, die Nahrung und Fülle hervorbringt, eine Kraft der Verwandlung, die in allem wohnt.

Rhythmus und Prozess
Diese Verse sagen noch etwas über das Reich Gottes, sie erzählen von einem Rhythmus und von einem Prozess: Da gibt es den Mann, der sät, der schläft und aufsteht, und es gibt die Folge von Tag und Nacht. Und dann gibt es die Etappen des Wachstums: der Samen keimt und wächst, die Erde bringt die Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das Korn in der Ähre. Beides, Rhythmus und Prozess, will sagen: Arbeiten gehört zum Werden des Reiches Gottes. Und dieses Werden geschieht in der Folge von Tagen und Nächten. Die Aufzählung strahlt Ruhe aus, Gelassenheit. Stressfreie Arbeit! Und es gibt die Sicherheit für den Arbeiter: die Etappen des Wachstums gehören dazu, Schritt für Schritt bis zum Ziel, bis zum Ernteeinsatz. Rhythmus und Prozess gehören zusammen, bis das Ziel erreicht ist.

Wie sollen wir dieses Gleichnis für unsere Zeit übersetzen? Oder: was sollten wir unbedingt hören, wie das ganze Kapitel es so eindringlich betont?

Zum Einen: Hören und zu Herzen zu nehmen ist der Hinweis darauf, dass die Dynamik des Reiches Gottes der Dynamik der Schöpfung ähnelt und dass der Mensch in diesen Prozess einbezogen wird. Kreativität wäre hier das angebrachte Stichwort! Wir können den Weg der Kreativität Gottes mitgehen, uns erfinderisch an der Entstehung einer neuen Wirklichkeit beteiligen.

Wie das gehen kann, haben die vergangenen Monaten voller Erfahrungen in der Corona-Pandemie gezeigt. Nicht alle Probleme konnten gelöst werden. Manche Einsamkeit und wirtschaftliche Nöte sind nicht vom Tisch. Aber Menschen haben sich mit viel Fantasie bemüht, trotz des Lockdowns in Kontakt zu bleiben. Gegenseitige Hilfe hat sich organisiert. Neue Wege von Zusammenkommen und Miteinander wurden in Kirche und Gesellschaft gesucht und teilweise gefunden.
Nun ist die Krise leider noch nicht zu Ende. Sie zwingt uns weiterhin, neue Wege zu gehen. Kreativität ist weiterhin nötig! Kreativität ist nicht nur die Sache von großen Künstlern. Jeder und jede von uns ist ausgestattet mit Fantasie und Schöpferkraft, die wir entfalten können - wenn wir es uns erlauben, wenn wir sie für die neue Schöpfung einsetzen. Wenn die Krise uns weiterhin beschäftigt, dann sind wir herausgefordert, nicht einfach "Weiter so" zu leben, sondern kreativ unter neuen Lebensbedingungen das Leben zu gestalten.

Das zweite, was ich aus diesem Gleichnis für heute heraushöre, betrifft die Qualität unseres Tuns: Nicht alles, was wir tun, ist "von sich aus", "automatisch" gut. Wir sind berufen, Wege zu gehen, die der Dynamik der (neuen) Schöpfung entsprechen.
- In der öffentlichen und kirchlichen, theologischen Diskussion um die atomare Abschreckung merken wir, dass viele noch meinen, böse Mittel könnten einem guten Ziel dienen. Da gilt es, entschieden zu widersprechen!
- Beim Ringen um das Klima sind Schritte gefragt, bei denen Wege und Ziele im Einklang miteinander sind.
- Im persönlichen Leben und im Leben der Gemeinde ist es auch so: Was wir denken und tun, wie wir miteinander umgehen, jede Faser unseres Wesens, alles was uns ausmacht, soll geprägt sein vom Geist, der die Schöpfung und die neue Schöpfung bewohnt - soll im Einklang mit diesem Geist wachsen...

Hören möchte ich persönlich besonders den Zusammenklang von Rhythmus und Prozess. Das geht mir am meisten gegen den Strich. Ich gestehe, dass ich oft ungeduldig bin: Ich bin zielorientiert. Das Gute ist, ich lebe mit einem Mann, der prozessorientiert ist und wir leben seit 35 Jahren in einer Lebensgemeinschaft. Da musste ich lernen (oft mühsam), wie wichtig Prozess und Rhythmus sind. Wenn ich zu sehr auf Veränderungen dränge, verhindere ich sie. In unserer Gemeinschaft heißt das, eine Gesprächskultur zu pflegen, in der wir uns Zeit nehmen für Prozesse der Meinungsbildung. Für den Rhythmus sorgen unsere Gebetszeiten zweimal am Tag und alles, was wir regelmäßig tun. Anfangs fand ich das nicht leicht. Mit der Zeit ist mir unser Rhythmus wichtig geworden. Routine ist nicht nur schlecht!

Auch unsere Gesellschaft ist ungeduldig, sie ist leistungs- und gewinnorientiert. Die Früchte, sind häufig giftige Früchte. Jetzt kam die Pandemie und entzog uns die "Kontrolle". Da gilt es, hellhörig zu werden. Wir dürfen die Chance nicht verpassen, unseren Lebensstil und unser System unter dem Aspekt von Rhythmus und Prozess neu zu durchdenken, neu zu entwickeln.

Der Mann im Gleichnis geht ohne Hektik seiner Arbeit nach. Gelassenheit, Geduld sind hier die Stichworte, die wir uns zu Herzen nehmen sollen. Es gibt ein Ziel und es gibt Zeitspannen für das Reifen von Situationen. Erst dann muss schnell gehandelt werden, vorher nicht.

Das Minigleichnis von der "automatischen" Saat will auch heute gehört werden.
Es ermutigt uns, kreativ zu werden, unser Wesen und unser Tun von der schöpferischen Kraft Gottes prägen zu lassen und geduldig und gelassen zu werden, wenn wir unser Leben und unsere Welt mitgestalten. Auch heute will Gott sein Reich in uns, mit uns und unter uns keimen und wachsen lassen wie die Saat auf den Feldern.

Die jetzige Krise birgt die Chance eines Neuanfangs. Dazu fordert uns Jesus auf: Menschen zu werden, die auf das Wort Gottes hören und es tun.

Amen

Marie-Noëlle von der Recke, Laurentiuskonvent Laufdorf