Thema: Wahrheit - Eine Predigt von Marie-Noëlle von der Recke, 08. August 2021
Die Predigt wurde umrahmt von einer Lesung aus Korinther 1, 8-13

Liebe Gemeinde,

Vor einigen Jahren nahm ich in Kroatien an einer interreligiösen Begegnung von "Gläubige für den Frieden" teil. Da gab es eine Übung, bei der vier Begriffe aus dem 85. Psalm - Friede, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Wahrheit - in kleinen Gruppen besprochen wurden. Aus jeder Gruppe kam dann eine Person und die "Begriffe" diskutierten untereinander weiter. Eindrucksvoll stellte sich eine verschleierte Muslima vor mit dem Satz: "Ich, die Wahrheit, komme von Gott...."

Einige Zeit später verwendete ich dieselbe Übung hier in Deutschland in einer Frauentagung. Die Vertreterin der Gruppe, die sich mit dem Begriff "Wahrheit" befasst hatte, stellte sich vor und sagte, dass es nicht so leicht sei, von "der" Wahrheit zu sprechen, denn es gebe ja, "deine Wahrheit, meine Wahrheit..."

Zwei Auffassungen aus zwei verschiedenen Zusammenhängen: eine Bosnierin hatte durch den Krieg wieder zu ihren muslimischen Wurzeln gefunden und bekannte sich zu Gott, der die Quelle der Wahrheit ist. Eine deutsche Mennonitin stellte manche dogmatischen Aussagen in Frage und wies auf die Vielfalt unter uns hin.

Das Thema Wahrheit beschäftigt mich in den letzten Monaten und Wochen sehr. Unsere Zeit zerbricht unter der Last falscher oder mindestens verwirrender Meldungen. Die Fülle an Informationen, die wir erhalten, macht es enorm schwierig, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen. Wahres von Erfundenem zu unterscheiden, ist im Dschungel der Meldungen gar nicht leistbar. Die Unwahrheit, ja die Propaganda, die es schon immer gegeben hat, ist durch die heutigen Medien eine noch mächtigere Waffe geworden. Sie ist in der Lage, die Stimmung bei Präsidentenwahlen oder bei Entscheidungen wie über den Brexit zu beeinflussen.

Auch in der Situation, in der wir seit eineinhalb Jahren leben, stellt sich die Frage nach der Wahrheit akut: Infos von gestern stimmen heute nicht mehr; ganz abgesehen von den Zahlen, die uns täglich erreichen.
Zwischen offiziellen Nachrichten und erfundenen Theorien gibt es bestimmt tausend Schattierungen der Meinungen, aber die Krisenstimmung lässt ein schlichtes Schwarz-Weiß-Bild entstehen. Wer sich dem Mainstream nicht anschließen kann oder will, wird schnell in die Ecke der Verschwörungstheoretiker gedrängt. Beiträge verschwinden aus dem Internet. Wikipedia-Seiten werden zu ungunsten von Buchautoren verändert. Ein gesunder Dialog ist fast unmöglich geworden.

Letzten Sonntag fand hier in unserer Gemeinde ein Gespräch statt unter der Frage Worauf bauen wir? Heute möchte ich mit Euch diese Reflexion fortsetzen. Denn ich will mich mit dem düsteren Bild, das ich gerade gezeichnet habe, nicht abfinden...
Ja - jede und jeder von uns nimmt die Wirklichkeit anders wahr. Ja - wie wir in der Lesung aus 1. Korinther 13 hörten, können wir Menschen nur Bruchstücke der Wirklichkeit erkennen. Aber ich möchte mit genau derselben Überzeugung wie unsere muslimische Freundin sagen können: die Wahrheit kommt von Gott.

Anstatt einen Text auszulegen möchte ich mich heute mit dem Wortschatz der Bibel zum Thema Wahrheit befassen. Denn die Wahrheit ist in ihr ein zentrales Thema.

Im ersten Testament finden wir Variationen eines Begriffes: "Amat" oder "Emet". Dieser Begriff stammt vom Zeitwort "Aman", das so viel heißt wie "tragen", "unterstützen". Daraus werden die Adjektive "fest, glaubwürdig, zuverlässig, wahr" abgeleitet. Je nach Kontext finden wir verschiedene Übersetzungen für dasselbe Wort: Im Psalm 85 wird emet entweder mit Wahrheit oder auch mit Treue übersetzt. Gott ist ein Gott der Wahrheit, das heißt, dass auf ihn Verlass ist. Gott ist beständig, vertrauenswürdig, und so sollen die Menschen auch sein, die nach seinem Willen leben wollen. Das erste Testament assoziiert Wahrheit auch mit den Geboten Gottes und mit der Gerechtigkeit, die er verlangt. Im Psalm 119 kommt das Wort "Emouna", das von "Aman" abgeleitet wird, viermal vor, immer im Zusammenhang mit Gottes Wille, mit seinen Geboten.

Im Neuen Testament wird das griechische Wort "aletheia" benutzt, das von der hellenistischen, eher abstrakten Denkweise beeinflusst sein mag. Die Prägung des ersten Testaments ist aber noch da. Wahrheit hat weiterhin die Nuance von Beständigkeit, Solidität, Authentizität, Echtheit. Sie hat nicht nur eine kognitive, sondern immer auch eine ethische und eine dynamische Dimension. 2. Petrus 2,2 greift den Psalm 119, auf und spricht von dem "Weg der Wahrheit", und da geht es eindeutig nicht um eine Idee, eine Theorie, sondern um das praktische Verhalten der Gläubigen.

Das Johannesevangelium setzt sich intensiv mit der Wahrheit auseinander. Sogar Pilatus fragt bei der Gerichtsverhandlung über Jesus: "Was ist Wahrheit?..."
Dass Gott vertrauenswürdig ist, zeigt sich darin, dass er in Jesus zu den Menschen kommt. Er will den Menschen nahe sein, von ihnen erkannt werden. Jesus betont dies immer wieder. "Mein Zeugnis ist wahr", sagt er in Johannes 8. Dazu schreibt die Basisbibel: mein Zeugnis ist glaubwürdig.

Der Höhepunkt dieser Reflexion des Johannesevangeliums wird im Kapitel 14 erreicht, als Jesus von sich selbst sagt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Auch hier wird deutlich, dass Jesus nicht über Philosophie spricht, denn beide Begriffe - Weg und Leben - machen deutlich: Es geht darum, dass Gott Menschen befreien und heilen will. Das Bild des Weges assoziierten die Zuhörer*innen Jesu automatisch mit dem Auszug aus Ägypten, also mit der Befreiung aus der Sklaverei. Das Bild des Lebens durchzieht die ganze Bibel, von der ersten bis zur letzten Seite und ist auch bei Johannes ein cantus firmus. Gott will, dass Menschen das Leben und Leben in Fülle haben!

Und dann gibt es noch bei Johannes eine für unsere Ohren ungewöhnliche Formulierung in Johannes 3, 21. Da geht es um Menschen, die "die Wahrheit tun!"

Paulus seinerseits betrachtet die ganze Heilsgeschichte und insbesondere das Erlösungswerk in Jesus als die Wahrheit. Das Evangelium ist die Wahrheit: Eph. 1,13 "Ihr habt die Verkündigung der Wahrheit gehört, die gute Nachricht von Eurer Rettung" (vgl. Kol. 1, 5). Das lässt sich auch umkehren: die Wahrheit ist das Evangelium. Es geht um einen historischen Prozess. Und wenn Paulus darüber praktisch wird, spricht er davon, dass wir "der Wahrheit gehorchen" (Gal. 3,7).
In Epheser 4,14 wird ein Zeitwort benutzt, das in dieselbe Richtung geht und etwas schwer zu übersetzen ist: "Aletheuein" wäre als Verbum buchstäblich zu übersetzen mit "zu wahrheiten" und wird mühsam als "an der Wahrheit festhalten" oder "die Wahrheit sagen" übersetzt.

Die Wahrheit kommt von Gott. Der kleine Exkurs, den wir gerade über die Auffassung von Wahrheit in der Bibel gemacht haben, kann uns helfen, Dimensionen zu entdecken, die unseren Horizont erweitern.

Der große Psychiater Viktor Frankl hat einmal geschrieben: «Zwei mal zwei ist vier, das ist eine arithmetische Wahrheit und keine existentielle Wahrheit». Ich würde noch zufügen, "zwei mal zwei ist vier" ist auch keine theologische, keine biblische, keine spirituelle Wahrheit. Die Bibel geht anders als wir an unser Thema heran: "Zwei mal zwei ist vier" ist nicht ihr Thema. Sie interessiert sich nicht so sehr dafür, was dogmatisch richtig oder falsch ist, was erwiesen ist und was nicht. Sie erzählt uns vielmehr eine Geschichte. In dieser Geschichte zeigt Gott, auf ihn ist Verlass. Er ist glaub-würdig und treu. Das ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. Jesus, wenn er bekräftigt, dass er die Wahrheit ist, hat nicht die Absicht, sich von anderen Religionen abzugrenzen. Er sagt damit, dass sein ganzes Wesen, seine Beziehung zu Gott und zu den Menschen eben diesen Gott bezeugt. Er lebt die Wahrheit, er tut die Wahrheit. Sein ganzes Leben sagt uns: So ist Gott! Die Wahrheit ist also nicht eine philosophische Kategorie, sondern eine Person.

Und, wenn es um unseren Umgang mit der Wahrheit geht, dann betont das neue Testament, dass die Wahrheit etwas ist, was man tut! Ja, die Wahrheit ist sogar ein Zeitwort! Also auch hier, keine abstrakte Denkkategorie. Pinhas Lapide, der jüdische Neutestamentler betont, dass das Verbum, das Jesus am meisten benutzt, das Zeitwort "tun" ist und er sieht ihn darin ganz auf der Linie der hebräischen Bibel und des jüdischen Denkens.

Ich glaube, wenn wir uns mit den Problemen und den Debatten unserer Zeit auseinandersetzen wollen, dann kann uns dieses Verständnis von der Wahrheit aus biblischer Sicht eine große Hilfe sein.

Es ist sicherlich gut, sich zu informieren und die Informationen, die wir sammeln, zu reflektieren - gar keine Frage. Es ist wichtig, vor der Fülle der Nachrichten nicht zu resignieren und sich ein möglichst klares Bild zu verschaffen über Ereignisse und Entwicklungen. Es ist wichtig, auf die Kompetenz von Experten zu achten und sie mit der Kompetenz anderer Experten zu vergleichen. Es ist wichtig, sich darüber auszutauschen, was wir lernen und was wir meinen zu wissen. Dabei sollten wir im Kopf behalten, dass dieses Wissen begrenzt ist, weil wir Menschen begrenzt sind und ergänzungsbedürftig. Unser Wissen ist bruchstückhaft, das sagte der Apostel Paulus schon vor vielen Jahrhunderten. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die Wissenschaft von heute meilenweit entfernt ist von der Wissenschaft von damals. Dennoch dürfen wir uns gar nichts auf unser Wissen von heute einbilden, denn rasante Entwicklungen stellen immer wieder in Frage, was einst für sicher und wahr gehalten wurde. Hier sind Demut und Bescheidenheit gefragt.

Spannend ist, dass allein das Stammwort Aman im ersten Testament uns schon einen Hinweis gibt für ein Leben, das von göttlicher Wahrheit geprägt sein will: "Tragen", "unterstützen" ist die Bedeutung von diesem Zeitwort. Die Worte, die davon stammen sprechen von dem, was "beständig", "fest", "glaubwürdig" ist. Vielleicht sollten wir unsere Suche nach Wahrheit neu orientieren. Anstatt zu sagen, wir brauchen noch mehr und genaueres Wissen, sollten wir danach suchen, was trägt, was Beziehungen tragfähig macht, was Bestand hat und glaubwürdig ist - so wie Gott verlässlich und glaubwürdig ist.

Zu meditieren ist auch die kühne Behauptung Jesu: "Ich bin die Wahrheit!" Wenn die Wahrheit eine Person ist, dann werden viele der Kategorien, in denen wir denken und handeln, in Frage gestellt. Wie er gelebt hat, was er sagte, wie er es sagte, was er tat, wie er sich in Konfliktsituationen verhielt, seine Beziehung zu Gott und zur heiligen Schrift, all das zeigt und gibt Zeugnis von dem, was wahr ist - von dem, was trägt.

Und schließlich ist da auch die Herausforderung an uns, der Wahrheit zu gehorchen, die Wahrheit zu tun, ja, zu "wahrheiten", also Jesus ähnlich zu werden, ihm auf dem ganz praktischen Weg der Wahrheit, wie er sie gelebt hat, zu folgen, tragfähige Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden.

Wir gehen durch turbulente Zeiten. Glaubenskriege toben, nicht nur zwischen Religionen. Die Frage nach der Gesundheit des Planeten schreit nach tragfähigen Antworten. Die Debatte um die Gesundheit der Menschen in der Pandemie auch. Gräben laufen durch Freundeskreise und Familien hindurch.
Über die ideologischen Diskussionen hinaus, über die Ursachen der Erderwärmung oder die Wirksamkeit von Lockdowns, Masken und Impfungen hinaus, sehe ich für uns die vorrangige Aufgabe, den Umgang untereinander in den Blick zu nehmen - als Einzelne, als Gemeinden und wo es irgend geht als Bürger und Bürgerinnen. Das, was trägt, zu suchen und zu tun. Den Stand unseres Wissens zu relativieren und viel mehr am Zustand der Beziehungen zu arbeiten. Menschen zu unterstützen statt sie wegen ihrer Meinung zu bekämpfen. Das Gespräch suchen, wo ein betretenes Schweigen sich ausgebreitet hat.

Am Anfang dieses Gottesdienstes hörten wir das Hohelied der Liebe aus dem 1. Korintherbrief. Es fasst all das zusammen, was wir brauchen, um in der Wahrheit Gottes zu leben. Es zeigt, was vorläufig ist und was bleibt, was heute bruchstückhaft ist und was eines Tages ganz sein wird, was noch unklar ist und eines Tages klar wird. In dieser Zwischenzeit zeigt es, was trägt: die Agape, die Liebe zu Gott und zu einander inmitten von so vielen noch ungelösten Fragen.

Amen
Jedes Mal, wenn wir Amen sagen, benutzen wir das Wort, das im ersten Testament mit Wahrheit oder mit Treue übersetzt wird. Wir bekräftigen damit, worauf wir in unserem Alltag bauen wollen: auf das, was tragfähig ist, auf Gott, der zuverlässig ist, auf Jesus, der die Wahrheit ist und uns zumutet, die Wahrheit zu tun.
Amen

Marie-Noëlle von der Recke, Laurentiuskonvent Laufdorf